Bester Text seit Langem. Abschiedsbrief von Inna Hartwich an Russland:Ach, Mütterchen …So empfängst du deine Besucher*innen. Du lässt sie zunächst in der Kälte stehen. Kein Lächeln. Du blaffst sie an, bellst fast, musterst sie. Fremde erscheinen dir immer gefährlich, suspekt. Du zeigst ihnen die kalte Schulter – und eine rührende Art von Neugier. Nach einer gewissen Zeit, wenn auch der Fremde sich geöffnet hat, wenn er dich angelächelt hat – oder vielleicht auch angeblafft hat, weil er dachte, so gehöre es sich im Umgang mit dir – lässt du ihn die Wärme verspüren, die von dir ausgeht. Manchmal auch eine gefährliche Hitze.Ich bin eine etwas anders geartete „Fremde“. Manchmal sagst du sogar, ich sei eine „Nascha“, eine „Unsrige“. Geburtsland: Sowjetunion. 1980 war das. Meine deutschen Vorfahren hast du einst ins Lager gesteckt, hast sie schuften und hungern lassen. Sie haben deinen Gulag überlebt, voller Angst und Traumata, die sie bis heute in sich tragen. Meinen ukrainischen Urgroßvater hast du vom NKWD, dem Vorgänger des heutigen FSB, festnehmen lassen und ihm seine Identität genommen. Sein Sohn hat seinen Namen geändert und nie etwas über die Festnahme des Vaters erzählt. Die Vorwürfe, die sich im „Fall“ gegen den ukrainischen Urgroßvater, der nur noch sowjetisch sein durfte, finden, sind teils wortgleich mit den Vorwürfen gegen die heutigen Regimekritiker*innen. Es sind fast 90 Jahre vergangen.Ich bin nicht die „Deine“. Aber ich kenne deine Mechanismen von Demütigung und Bestrafung von klein auf. Weiß, dass ein Individuum ein Nichts ist für dich und das Kollektiv alles. „Immer bereit!“ Dieser Spruch der Jungpioniere, auch mir ging er als Kind über die Lippen – bis ich die zusammengebrochene Sowjetunion verließ und lernte, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Vielfältig, auch zweifelnd, Fragen stellend.(...)Ach, Mütterchen …Du duldest keine Fragen, keinen Zweifel. Für dich gibt es ein ständiges „Nelsja“ (Man darf nicht) und ein „Nado“ (Man muss). Warum die Menschen etwas nicht dürfen oder etwas müssen, erklärst du nicht. Du stellst nur fest. Hält sich der Mensch nicht daran, wird er bestraft. Immer. Barmherzigkeit war noch nie deine Stärke. Um ans Ziel zu kommen, kennst du nur Gewalt.Es gab eine Zeit, in der du dich geöffnet hattest. Eine chaotische Zeit, in der niemand wusste, wie mit Freiheit umzugehen sei. Und wie mit einer Wirtschaft, die zusammengebrochen war. Die Freiheit war nach einiger Zeit anstrengend, zu wild das alles. Selbst denken ist anstrengend, Verantwortung übernehmen ist anstrengend. Du hast es gern gesehen, als die Menschen alles an dich übergaben und auf ihrer Datscha das Leben genossen. „Der Politik bin ich fern“, sagen sie gern. Nicht alle natürlich. Wie lebt es sich in einer Gesellschaft des Umbruchs? In einer Gesellschaft, die Teile ihrer Geschichte verleumdet und eine Zukunft leben will, in der sie ihre Erzählung vom kulturhistorischen „Sonderfall“ jedem aufzubinden versucht?Ich war als Kind gegangen und bin als Erwachsene zu dir zurückgekehrt. Nach Russland. Ich bin durch den postsowjetischen Raum gereist. Habe als Austauschstudentin dein Unileben kennengelernt (sehr verschult), später als Gastredakteurin bei einer russischen Zeitung gearbeitet (als es noch unabhängige Medien gab). Ich bin Jahre bei dir geblieben, überzeugt davon, dich meinen Leser*innen erklären zu können, deine Geschichte, deine Schmerzen. Ich blieb auch noch da, als viele Kolleg*innen dir längst den Rücken gekehrt hatten. Dich zu verstehen, machte das lange Beobachten, Zuhören, Fragen stellen dennoch nicht einfacher.Ich lernte hier die Liebe kennen, vor einem Gerichtsgebäude, wo sonst. Russlandberichterstattung ist weiterhin Gerichtsberichterstattung. Nur dass die Gerichte kaum mehr Journalist*innen in die Verhandlungssäle lassen. Nach ein paar Jahren woanders war ich wieder bei dir, zu einem Zeitpunkt, als deine Gesellschaft immer militaristischer wurde. Mehr als mein halbes Leben lang habe ich bei dir verbracht, habe unserem Kind deine Sprache mitgegeben, meine Sprache der Kindheit, die ich nicht Putin und seinen willfährigen Handlangern überlasse.Ich habe als Fünfjährige im Steppenwind zu Alla Pugatschowa herumgetänzelt, da war sie längst eine Diva. Du hast sie, eine Nationalheilige fast, tief stürzen lassen, weil sie Rückgrat bewies und dich für deinen Überfall auf die Ukraine kritisierte. Ihre Lieder sind heute wie gelöscht im Land. Ich mache sie oft laut im Auto an, wenn ich mit 80 Stundenkilometern über die achtspurigen Straßen durch das Moskauer Stadtzentrum brettere – ja, das darf man –, vielleicht eine Art persönlichen Protests. Manchmal weinen der Himmel über der Stadt und ich dabei um die Wette.(...)Die Willkür ist dein ständiger Begleiter. Du hast dich in der Gewalt eingerichtet. In alten Verbrechen, die du nicht verarbeiten willst, auch Jahrzehnte nach diesen Verbrechen nicht; du wälzt jeden nieder, der dies dennoch versucht. Auch mit neuen Verbrechen findest du dich ab, die du täglich begehst und über die du der ganzen Welt erzählst, all das sei nur zu deinem Schutz, zu deiner Verteidigung. Du lügst dir in die Tasche und verdrehst die Tatsachen so geschickt, dass dir die Welt so viele Jahre alles Mögliche abgenommen hat, trotz deiner Kriege, Tschetschenien, Georgien, Ukraine, mit dir Geschäfte machte, deine Gastfreundschaft hervorhob und deinen angeblichen Willen zur Partnerschaft.(...) Du hast dir eine scheinbar sorgenfreie Realität geschaffen. Bunte Kulissen, dekoriert mit übergroßen Blumenkübeln entlang der Einkaufsstraßen. Es ist eine „Verdatschung“ der ganzen Gesellschaft, eine Flucht ins Grüne, ein bisschen in der Erde buddeln, in der Hängematte baumeln, in die Sonne hinausblinzeln. Hinter den Kulissen der Abgrund, in dem der Morast blubbert und stinkt. Was passiert, wenn du aus der Hängematte hinaus- und in die Schlucht hineinfällst?(...)Zurück bleibt die Tragik. Da ist L., jung, Anwältin, mehrere Sprachen beherrschend. Sie erkennt genau, was los ist bei dir, sie sieht bei den eigenen Eltern, wie gut du darin bist, die Hirne der Menschen zu vernebeln. Sie stritt mit Vater und Mutter, sie stritt für ihre Position. Aber selbst Väter und Mütter können denunzieren. L. verstummte. Nur in ihrem Innern schreit sie laut gegen dich an. Und gegen sich. Äußerlich lebt sie ein unauffälliges Leben. Bringt die Tochter in den staatlichen Kindergarten, wohl wissend, dass die Leiterin dieses Kindergartens Geld sammelt für die Ausrüstung der Soldaten im Donbass. Sie windet sich, sie holt sich psychiatrische Hilfe – und findet sich ab mit dir. Das Kind in einen Privatkindergarten geben? Von welchem Geld? Das Kind zu Hause lassen? Wer verdient das Geld? Eine Wahl zu haben, ist ein Privileg.Da ist A., ein Kleinunternehmer. Niemand in seiner Umgebung sieht alles, was bei dir passiert, irgendwie kritisch. A. fühlt sich allein. Die Geschäfte laufen schlecht, weil die Finanztransaktionen wegen der Sanktionen ein mühsames Ding sind. A. versteht das alles. Doch überleben muss man irgendwie. Auch er findet sich ab mit dir.Da ist S., einst in oppositionellen Kreisen aktiv. Nach Festnahmen flüchtete er in ein Dorf im Norden, hier fischt er und schippt Schnee im Winter. Die Politik ist in seinem Kopf und manchmal auch an seinem Esstisch, wenn die Nachbarin vom verletzten Sohn bei der „Militäroperation“ erzählt. „So lange der Verbrecher im Kreml sitzt, so lange wird er unsere Kinder fressen“, sagt S. zur Nachbarin. Die Nachbarin will es nicht hören.Da ist ein anderer A., ein Intellektueller, zum „ausländischen Agenten“ abgestempelt. Er denkt, er schreibt, er wird immer weniger. Blass, grau, schmal. „Hier ist meine Bibliothek, hier sind meine Verwandten begraben. Es ist mein Land“, sagt er.Da ist das Mädchen V., das in der Schule eine Soldatenuniform trägt und von „roten Raketen und Maschinengewehrsalven“ singt. Die Eltern daheim sagen: „Es schadet ihr nicht.“Da ist der Jugendliche F., der so viele Fragen hat, zu sich, zum Leben, zu allem. „Der Krieg, die Politik, die Sorgen um die Zukunft sind nicht die Themen, die erlaubt sind. Das versteht jeder“, sagt er.Wir müssen uns trennenSie sind bei dir geblieben. Sie wollen, können nicht weg. Sie leben in dem Desaster, das du angerichtet hast und sie nicht verhindert haben, wie auch die Gegangenen und die Gegangenwordenen darin leben. Trotz allem träumen sich viele Exilant*innen/Relokant*innen/Emigrant*innen (die Gegangenen haben viele Namen für sich) wieder hierher, zu dir, ins Vertraute, Bekannte. Hier wartet zuweilen ein Strafverfahren auf sie oder es wurde bereits ein Urteil in Abwesenheit gegen sie gefällt. Sie sind in Amsterdam, in Riga, in Tbilissi. Sie sind rund um die Welt verstreut und sagen: „Ich will in mein Moskau zurück. In mein Russland.“ Dieses Moskau und dieses Russland aber gibt es nicht mehr.Auch wir müssen uns trennen. Vielleicht für lange.Ach, Mütterchen, пока …https://taz.de/Abschied-von-Russland/!6102674/